zurück

Das Schicksal eines Nazi-Gegners in Villingen: Wilhelm Schifferdecker
Köpfe werden rollen für den Sieg
aus der Badischen Zeitung vom 2. Februar 1983
von Franz Dannecker


Als vor 50 Jahren die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen und auch in Villingen sofort mit rüden Methoden die demokratischen Entscheidungsträger verdrängten, war der Gewerkschaftssekretär Wilhelm Schifferdecker einer der ersten, der in der Zähringerstadt unter dem braunen Terror zu leiden hatte. Der damals 53 Jahre alte Leiter des Bezirks Villingen des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) wurde nicht nur auf übelste und unrechtmäßige Weise aus seinem Amt gejagt, er wurde mißhandelt, eingesperrt; blieb nur durch glückliche Umstände am Leben.

Die örtlichen Zeitungen berichteten damals gar nicht oder nur kurz in lapidaren Sätzen über solche Ereignisse ("... wurde in Schutzhaft genommen"), authentische Zeugen der damaligen Ereignisse finden sich heute kaum mehr. Was jedoch Wilhelm Schifferdecker damals widerfahren ist, hat eine Zeugin noch heute in genauer Erinnerung: Ida Schifferdecker, seine Tochter, die heute 77jährig in ihrem Haus Am Germanswald wohnt und damals selbst unter dem Terror leiden, mit eigenen Augen mitansehen mußte, wie ihr Vater mißhandelt wurde.

Der gebürtige Schwenninger Wilhelm Schifferdecker war schon früh politisch aktiv, hat sich für die Sache der Arbeiter eingesetzt, und von Anfang an mußten er und seine Familie für dieses Engagement Nachteile erdulden, sich als schwarze Schafe diskriminieren lassen.

1907 verlor der bei Kienzle-Uhren in Schwenningen beschäftigte Schifferdecker Arbeit und Brot, weil er sich an dem Streik der Uhrenarbeiter beteiligt hatte. Eine unter Arbeitgebern kursierende schwarze Liste verhinderte, daß er eine neue Arbeit fand. Erst 1909 konnten ihm die Metaller eine Arbeit in Stuttgart vermitteln, wo er sofort wieder für die Gewerkschaft und die SPD aktiv wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Schifferdecker Mitglied des württembergischen Landtages, verzichtete aber nach kurzer Zeit auf das Mandat, um die Bezirksleitung des Metallarbeiter-Verbandes in Villingen zu übernehmen.

Als sich die Weimarer Republik auf ihr Ende zubewegte und die Nazis immer dreister auftraten, als er und seine Tochter, die als Büroangestellte der Gewerkschaft ständig mit ihm zusammenarbeitete, bei Versammlungen beschimpft wurden, auch als er eines Morgens am Gartentor seines Hauses am Germanswald einen Totenkopf hängen sehen mußte mit der Aufschrift "Köpfe werden rollen für den Sieg", glaubt Schifferdecker immer noch an die rechtsstaatliche Ordnung. Rechtsstaatlichkeit galt jedoch nach der Machtübernahme der Nazis nicht mehr, auch nicht in Villingen. Wilhelm Schifferdecker bekam dies auf drastische Weise am eigenen Leib zu spüren.

Er wurde gewarnt. Im März 1933, erinnert sich Ida Schifferdecker, kam mehrere Male ein wohlmeinender Kriminalbeamter heimlich in den "Löwen" in der Oberen Straße, das damalige Gewerkschaftshaus, um ihren Vater auf die bevorstehende Gefahr aufmerksam zu machen: "Verschwinden Sie zu Verwandten oder anderswo hin." Doch der Gewerkschaftssekretär blieb in dem für die damalige Zeit naiven Glauber ihm könne nichts passieren, da er nichts Unrechtes getan habe.

Am Abend des 17. März, einem Donnerstag, schlug die Villinger SS dann zu. Wilhelm Schifferdecker und seine Tochter blieben an diesem Tag bis gegen elf Uhr im "Löwen" und machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Ida Schifferdecker hatte bereits den ganzen Abend beobachtet, wie die Tür des "Löwen" immer wieder ein Stück geöffnet wurde, daß sie also offenbar beobachtet wurden. Doch ihr Vater hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen.

Um so größer muß der Schreck gewesen sein, als sie kurz vor Erreichen ihres Hauses am Germanswald von einer Gruppe von etwa 30 SS-Leuten in Empfang genommen wurden. Die Straßenbeleuchtung war ausgeschaltet, plötzlich blitzten zahlreiche Taschenlampen auf, Ida und Wilhelm Schifferdecker waren in der Gewalt der schwarzuniformierten SS-Leute.

Der Gewerkschaftssekretär wurde ins Gesicht geschlagen, man durchsuchte die Taschen von Vater und Tochter, beschimpfte und bedrohte sie. Ida Schifferdecker mußte dann miterleben, wie ihr Vater für verhaftet erklärt, weggezerrt und mit brutaler Gewalt auf die Pritsche eines bereitstehenden Lastwagens geworfen wurde.

Beim Schließen der Ladeklappe verklemmte sich Wilhelm Schifferdecker eine Hand. Seine Tochter hört heute noch, wie er vor Schmerzen schrie. Doch keiner der Schwarzuniformierten befreite ihn aus seiner Lage.

Das SS-Kommando brachte seinen Gefangenen in das Nazi-Hauptquartier, den "Stiftskeller" in der Gerberstraße, wo sie "Femegericht" zu halten pflegten. Dort erging es Schifferdecker noch schlimmer als auf dem Transport. Er wurde getreten und mit Stahlruten, Totschlägern, Gummiknüppeln brutal zusammengeschIagen. Kein Fleck war mehr am Körper des Mißhandelten, so erinnert sich Ida Schifferdecker, der nicht blutunterlaufen und dick angeschwollen war.

Die SS-Schergen hatten ihr "Urteil" schnell gefällt: Weil er ein "Landesverräter" sei, müsse Wilhelm Schifferdecker sterben, werde er sofort erschossen. Zum Glück für den Gewerkschaftler sollte jedoch noch telefonisch die Zustimmung des Gauleiters Wagner zu diesem Todesurteil eingeholt werden (vielleicht wollte man ihn auch nur in Todesangst versetzen). Der Gauleiter verhinderte jedoch doch die sofortige Erschießung und ordnete an, daß Schifferdecker ins Gefängnis einzuliefern sei. Erst solle man nachforschen, welche Verbrechen der Gewerkschaftssekretär begangen habe.

Der Mißhandelte wurde ins Gefängnis gebracht, wobei die SS-Leute ein Spalier bildeten und den Gefangenen unflätig beschimpften und bespuckten. Wegen der schweren Misshandlungen mußte Wilhelm Schifferdecker ins Krankenhaus gebracht werden, wo der Arzt nach der Schilderung der Tochter wörtlich meinte: "Schifferdecker, wenn Sie nicht einen Neandertaler Schädel hätten, wären Sie bei diesen Mißhandlungen nicht mit dem Leben davongekommen."

Wilhelm Schifferdecker kam mit dem Leben davon - aber als gebrochener Mann. Krank, seiner Wirkungsmöglichkeiten beraubt, geächtet. Schifferdecker war eines der Opfer von Nazis in Villingen, wie später auch der Gewerkschafter Fritz Restle, wie der Regierungsrat Uebler vom Arbeitsamt und wie der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Heid, der 1944 erneut verhaftet worden war und im KZ Dachau umkam.

Wilhelm Schifferdecker konnte damals die ihm von der SS zugefügten Verletzungen nicht auskurieren. Nach einigen Tagen wurde er von den Nazis aus dem Krankenbett geholt und erneut ins Gefängnis gesteckt. Er kam erst frei, als seine Tochter einen Bittgang zum NSDAP-Kreisleiter Jäckle nach St. Georgen tat und die Unschuld ihres Vaters beteuerte. Der Kreisleiter holte den Gewerkschafter aus dem Gefängnis und sorgte auch dafür, daß die Buchführung der Gewerkschaftsverwaltungsstelle wieder in Ordnung gebracht und eine sachgemäße Überprüfung der Belege vorgenommen wurde. Ergebnis: Gewerkschaftssekretär Schifferdecker hatte sich - entgegen den Anschuldigungen der Nazis - in all den Jahren nichts zuschulden kommen lassen. Doch damit war Schifferdecker keineswegs rehabilitiert. Eines Tages fehlte Geld in der Kasse - "das hat man ihm natürlich gestohlen" sagt seine Tochter -, die fristlose Entlassung war die Folge.

Auch Ida Schifferdecker selber mußte schwer unter der Nazi-Herrschaft leiden, nachdem die Braunen unter der Führung von "Kommissar" Morstadt sowie den NS-Aktivisten Roth und Hirt die alte Gewerkschaft zerschlagen und gleichgeschaltet hatten. Sie wurde beschimpft, beleidigt, mußte sich die Anschuldigungen und Drohungen gegen ihren Vater anhören. Bald verlor auch Ida Schifferdecker ihre Arbeit, weder Vater noch Tochter fanden, abgestempelt wie sie waren, eine neue Beschäftigung. Ein paar Mark Arbeitslosenunterstützung (19 Mark in der Woche) war alles, was die Schifferdeckers zum Leben hatten. Mit einem Öl- und Fetthandel schlug sich der ehemalige Gewerkschafter mehr schlecht als recht durch.

1944, nach dem Attentat auf Hitler, geriet Schifferdecker noch einmal in die Fänge der Nazis. Wie andere Regimegegner wurde er verhaftet und sollte in ein KZ kommen. Noch auf dem Bahnhof, kurz vor dem Abtransport, wurde er aber vom damaligen Leiter des Gesundheitsamtes, Huber, für haftunfähig erklärt und entging so einem schlimmeren Schicksal.

Nach dem Ende des "Tausendjährigen Reiches" kam Schifferdecker zur damaligen politischen Polizei; zusammen mit Fritz Restle bemühte er sich um eine Wiederbelebung der Metaller-Gewerkschaft. Doch körperlich und seelisch von den Mißhandlungen der Nazis gezeichnet, starb er bereits 1946.

Ida Schifferdecker lebt heute, 77jährig, in dem Haus ihres Vaters Am Germanswald. Verständlich ihre Verbitterung, wenn sie sich an die schwere Zeit des Dritten Reiches erinnert. Schließlich trifft sie auch heute noch in der Stadt mitunter den eien oder anderen der alten Nazis, die sie damals drangsaliert haben.

Ida Schifferdecker hat nach dem Krieg Wiedergutmachung beantragt und schließlich eingeklagt. Zunächst wurde ihr Antrag abgelehnt, auf einen neuerlichen Antrag bekommt sie seit 1973 Wiedergutmachung: 31,60 Mark im Monat.
zurück