Orts- und Familienforschung

Fischerdörfer am Jamunder See

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Im Kinderdorf Nest bei Köslin

„Ja, und dann haben wir gebadet, und die Wellen gingen sooo hoch“ … „und uns Strandburgen gebaut“, „….und der dicke Koch“, „.… aber die Sportklause konnte fein Fußball spielen“, „und diese dicken Stullen“ – wild schwirrt’s durcheinander in den Pausen, wenn irgendwo in einer Ecke unseres Schulhofes ein paar Ostseefahrer Erinnerungentauschten, Erinnerungen an vier Wochen Heimaufenthalt in Nest, dem Ostseeerholungsheimder Stadt Berlin unserem Nest.

Erstes tiefes Erlebnis für Berliner Kinder, Kinder aus dem Milieu eines Döblinschen Alexanderplatzes, eines straßenhahn- und autoumtosten und durchtosten Bezirkes Berlin- Mitte, wo hohe Mauern und schwarze Hausgiebel sich der Sonne zurecken und die letzten Sonnenstrahlen der in knappsten Wohnungen aufwachsenden Berliner Jugend wegstehlen, den Bäume das Heimatrecht nehmen. Und dann: eine weite herrliche Landschaft, ein Stückchen deutscher, heimischer Erde, voll Sommer und Sonne, voll Meereswogen und frohen Kinderspieles, alles, alles Kinderheim, ohne den strengen Schupo, alles ist unser, die Ostsee, die Dünen, der Wald, die Speisehalle, der dicke Koch, die Sonne, der blaue Himmel …

„Ich war schon in der vorigen Gruppe da, und weil es mir hier so gut gefällt, habe ich zu meinen Eltern geschrieben, ich möchte gern hier bleiben. Die Eltern gaben mir Antwort, ich könnte noch dableiben. Da haben sie es alle bewilligt … Dann kamen die neuen Kinder. Sie waren alle mit großer Freude „im“ Nest.“ Im Nest, so schreibt eine kleine Hannoveranerin, eine begeisterte Neunjährige, begeistert und erlebnisreich, wie alle die 30 000, die von hier ein klein bisschen Sonne und Sonnenbräune mitnehmen nach Darmstadt, Zella-Mehlis, Frankfurt, Hannover, nach Süd und West und Mitte. Ein klein bißchen Sonneund … die ewige Sehnsucht nach Dünensand und Wellen.

7 Uhr morgens. Die ganze Baracke kann schon gar nicht mehr schlafen, so verlockend winkt Frau Sonne. „Und heute dürfen wir wieder baden“, flüstert man sich von Bett zu Bett zu, in dem sich’s so wunderbar liegt, auch ohne Federbetten. Da braucht „Tante“ gar nicht erst wecken zu kommen, da ist man schon `raus, wenn sie bloß „Guten Morgen“ sagt. Und schon sind die ersten im Waschraum oder vor der Baracke an der Pumpe. Dann flugs zur Speisehalle, wo die fünfhundert hungrigen Mäuler vielleicht nicht weniger schnattern und rattern, als es vor 15 Jahren in böser Kriegszeit die in dieser Halle stationierten Flugzeuge taten. Flugzeughalle mit davor liegender zementierter Startbahn, alle die 21 Baracken mit einer Belegungsziffer von 30 – 60 und die 6 Verwaltungs- und Wirtschaftsbaracken, die Krankenbaracke – Fliegerstützpunkt Nest in Weltkriegsjahren, jetzt Tummelplatz jubelnder, ungebundener Kinder, Kinderheim Nest auf der schmalen Landzunge zwischen Ostsee und Jamunder See.

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Mittagstisch. 400 Kinder zugleich, die anderen 400 anschließend. Keine lange kritische Betrachtung, was der dicke Koch mit seiner hohen Mütze heute gekocht hat, ob grüne Bohnen oder Fisch, ob Braten oder Erbsen, 400 hungrige Mäuler futtern und futtern. Kaum nötig, daß die Aufsicht irgendeinem verwöhnten Muttersöhnchen zuredet, Hunger – und denhaben alle Kinder in der Seeluft und Sonnenschein, nach Spiel und Baden – ist der beste Koch. Vielleicht haben sie anfangs darüber gestaunt, die Gruppenmädchen, wenn im Nu drei, vier Eimer verdrückt waren und immer neue Eimer geholt werden mussten, die der wohlgefällig schmunzelnde Koch gern einfüllt. Lob seiner Kochkunst. Aber als die 800 Kinder unseres Transportes eines Abends zu ihrem Brathering die gekochten 14 Zentner Kartoffeln ratzekahl vertilgt hatten, da hat er sich doch seinen spärlichen Haarschopf gekraut und noch 2 Zentner nachkochen lassen. Und auch die sind noch alle geworden.

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Und nun der schöne lange Nachmittag. Von 3—7 Uhr Spiel oder Baden oder Spaziergang oder Buddeln am Strand mit den vom Heim gestellten Spaten. Aber da kommt man kaum dazu, eine Burg zu schaufeln, wie es die Badegäste tun und ihren Thron ( zu deutsch Strandkorb) hineinsetzen und den Wimpel aufstellen zum Zeichen der Okkupation des Stückchen Strandes. Nein, hier ist ja alles unser, hier kommt kein Badegast entlang, der sich die Ohren zuhält und über ungezogene Kinder schimpft oder mit Schupomiene nach der Adresse des Führers oder Lehrers fragt. „Hier bin ich Mensch“, hier sind die Kinder, hier am Strand, in den aufspritzenden Wellen, hier auf den Wiesen des Heimgeländes beim Fußball, Völkerball, Tamburinspiel, bei unseren Volkstänzen. Euch packt das Leben, packt die Sorge ja doch noch früh genug an, tobt euch nur aus hier, spielt euch nur ruhig hungrig, unser dicker Koch, Herr Gansberg, wird den Abendtisch schon reichlich gedeckt haben!

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Nach Großmöllen, nach Deep, vielleicht gar zum Gollenberg, der über den Jamunder See mit seinen blauen Wäldern herüberleuchtet. „Gestern ging’s zum Gollen“, so schreibt eine 14jährige: „Es war ganz hübsch. Wir hatten’s uns allerdings ganz anders vorgestellt.“ (Kein Wunder, wenn man am Fuße des Isergebirges, in Reichenberg, wohnt. Der Verf.) „Erst fuhren wir ¾ Std. mit der Elektrischen bis Köslin. Von Köslin bis zum Gollen brauchten wir ½ Std. Das Bergel ist nicht einmal 150 m ! Oben angelangt, waren wir natürlich alle schrecklich müde! Wenn wir auch so weit laufen müssen. Oben tranken wir Kaffee (das schrecklichste in Deutschland ist der gute Kaffee) und aßen Kuchen dazu. Der war gut. Nachher durften wir machen, was wir wollten. Wir sechse im Bunde strolchten einige zeitlang im Walde herum, dann spielten wir Ritter und Räuber. Drei Stunden durften wir dort `rumhausen, ohne Anstandswauwau, ohne Tante. Die drei Stunden haben wir nach Kräften ausgenützt. Leider ging die Zeit zu schnell `rum.“

Ein anderes Erlebnis, tiefer gesehen und gefühlt (Hortense M., Berlin, 15 Jahre):

„Jeden Nachmittag machten wir einen Spaziergang, so auch diesmal. Wir gingen ein Stück die Landstraße entlang, erreichten bald eine Wiese und lagerten uns dort. Die Wiese ist sehr hügelig und stieg steil bergan. Oben befindet sich ein Sturmanzeiger. Ist einfacher Sturm, wird ein Ball hochgezogen, ist doppelter Sturm, werden zwei Bälle hochgezogen, und es bedeutet für die Fischer Gefahr. Meine Freundin und ich sahen uns das alles genau an und gingen dann spazieren. So kamen wir zu Fischnetzen, die zum Trocknen aufgehängt waren. Wir bewunderten die feine Ausführung. Plötzlich bemerkten wir, daß sich in einem der Netze ein Vögelchen verfangen hatte. Es flatterte ängstlich hin und her und piepste jämmerlich. Eine Weile standen wir ratlos daneben. Dann gingen wir zu einer Bauersfrau, die im Hofe war, und erzählten es ihr. Aber die Leute hierzulande sind sehr wortkarg, und sie gab uns kaum eine Antwort. Schließlich trat ein Bauer aus der Hoftür und gebot uns, das Netz abzumachen. Als wir es endlich mit vieler Mühe gelöst hatten, konnten wir dem Tierchen die Freiheit schenken, und es flog mit raschem Flügelschlag davon.“

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Und schließlich – auch ein Augenblick – ein paar Worte einer 14jährigen über ihren ersten Ostseeeindruck:

„Seit langem war mein einziger Wunsch, die Ostsee zu sehen. Darum freute ich mich sehr, weil ich in das Erholungsheim Nest kam. Dort konnte ich es nicht erwarten, bis wir den ersten Spaziergang zur Ostsee machten. Wir standen auf dem Übergang der Dünen. Weit, weit sah man nichts als Wasser und die Wellen. Weit von hinten rollten die Wellen dem Ufer zu. Das Meer war in die verschiedensten Farben getaucht. Die Wellen hatten ein dunkles Grün. Wenn sie aber stürzten, war das Wasser hellgrün. Die Wellen schäumten und spritzten und manchmal sah es aus, als ob ein Geist sie besehligte. An der Küste wurden die Wellen immer kleiner, bis sei zuletzt am Strande ausrollten, immer und immer wieder. Höchst befriedigt und in meinem Erwarten übertroffen, kehrte ich nach Hause zurück.“

Ein Tag wie der andere, und doch jeder Tag anders als der andere. Schönste Stunden gebend, und doch ein klein bisschen Wehmut für die Wissenden dabei: 1931 werden zum letzten Male Kinder in Nest tollen und am Märchenbaum Geschichten hören. Dann ist Nest nur noch Erinnerung in Tausenden von Kinderherzen. Vielleicht, daß der Märchenbaum, wenn ihn keine Kinder mehr besuchen, traurig den Dünen etwas erzählt von frohem Kinderlachen und von den Märchengestalten, die um ihn herum einst Weltstadtkinder deutsche Märchen lebendig machten.

Paul Metzner

Ostsee - Erholungsheim der Stadt Berlin in Nest

Das Erholungsheim der Stadt Berlin wurde nach dem Ersten Weltkrieg in den Baracken des alten Flugplatzes (am östlichen Rand von Nest) eingerichtet. 1931 wurden hier zum letzten Mal Kinder untergebracht.

In einem Aufsatz über einen Aufenthalt in dem Erholungsheim, im Jahr 1930, schildert Paul Metzner sehr eindrucksvoll das Leben und Treiben in dem Heim.

Der Aufsatz von Paul Metzner, damals Lehrer in Berlin Kaulsdorf, ist in dem Buch:

Die wandernde Schule – Zum Besten der wandernden Jugend und des Herbergswerks – erschienen.

Herausgegeben 1931 von Karl Templin, Regierungs- und Schulrat

Eine Kopie, des Aufsatzes aus dem Buch, wurde mir freundlicherweise von Herrn Joachim Metzner zugeschickt. Einige Passagen sind hier wiedergegeben.

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